Anwenderbericht DSS

Zusammenfassung

Das Decision Support System zur Evaluation von Maßnahmen zur Reduktion der Ingestionsdosis nach einem Unfall mit erhöhter Radioaktivität wurde an der Nationalen Alarmzentrale (NAZ), der Einsatzorganisation des Bundes für außerordentliche Ereignisse in Zürich, entwickelt und steht heute als einsatzfähiges System der NAZ und ihrem Armeestabsteil im Einsatzfall, aber auch für Trainings- und Simulationszwecke zur Verfügung. Die Erfahrungen, welche die Nationale Alarmzentrale mit den Endnutzern im Verlaufe der Systementwicklung gemacht hat, sind sehr positiv. Ohne die kritisch-konstruktiven Einwendungen und Ergänzungen der Angehörigen des Armeestabsteil wäre die heutige Akzeptanz des DSS in der Schweiz kaum denkbar.

1. Einleitung

Die Information der Bevölkerung bei außerordentlichen Ereignissen hat mit der rasanten Entwicklung der Übermittlungstechnik und der Vielzahl von öffentlich-rechtlichen und privaten Radio- und Fernsehstationen eine neue Dimension erhalten. Die frühzeitige und möglichst vollständige Information der Bevölkerung während eines Störfalls ist zu einer vordringlichen Aufgabe geworden, die ohne entsprechende Vorbereitung nicht erfüllt werden kann (1). Zu dieser Vorbereitung gehört unter anderem die Entwicklung und Anwendung leistungsfähiger Simulations- und Entscheidungshilfemodelle, die bereits in einem sehr frühen Stadium des Ereignisses eine Lageübersicht und mögliche Prognosen über den Ereignisverlauf erlauben. Denn bereits zu Beginn eines Ereignisses, wenn über den Ereignisverlauf sehr wenig bekannt ist, will die Bevölkerung über die Lage, die Gefährlichkeit sowie die persönliche Bedrohung von den verantwortlichen Behörden eine möglichst detaillierte Auskunft. Die Einsatzorganisationen, wie zum Beispiel die Nationale Alarmzentrale, stehen in solchen Fällen vor beinahe unlösbaren Problemen. Auf der einen Seite sind sie als offizielle Organe verpflichtet, die eingehenden Meldungen zu verifizieren und sorgfältig auszuwerten, bevor sie eine offizielle Stellungnahme abgeben. Auf der anderen Seite kann eine verifizierte und qualifizierte Information nur mit einem gewissen Zeitverzug abgegeben werden. Kommen jedoch von offizieller Seite keine Informationen, werden vorhandene Informationslücken in der Regel sofort von wenig qualifizierten, häufig unvollständig informierten Einzelpersonen oder Organisationen ausgefüllt. Um diesen für eine staatliche Behörde mißlichen Time-Gap zu verkürzen, hat die Nationale Alarmzentrale in den letzen Jahren große finanzielle und personelle Anstrengungen unternommen, um die Entwicklung von Simulations- und Entscheidungshilfemodellen in ihrem Bereich voranzutreiben. Diese computergestützten Modelle dienen der Analyse einer bestimmten Situation, der Generierung von möglichen Handlungsalternativen, sowie dem Prozess Entscheidungsfindung, der in einer Krisensituation aufgrund von Streß und einer in der Regel unvollständigen oder sich widersprechenden Daten- und Informationslage an die Entscheidungsträger höchste Anforderungen stellt.

Dienen die computergestützten Simulations- und Entscheidungshilfemodelle in einer ersten Phase vor allem der Prognostizierung eines Ereignisverlaufes und der unmittelbaren Schadensbegrenzung, müssen die genannten Systeme in einer zweiten Phase in der Lage sein, große Mengen von Meß- und anderen ereignisspezifischen Daten zu verarbeiten und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu visualisieren. Die standardmäßige Verarbeitung von regelmäßig anfallenden Daten ist heute ein Muß, weil sie zu qualitativ besseren Entscheidungen und einer Reduktion des Streßpotentials bei den Entscheidungsträgern führen: Müssen von den Entscheidungssträgern sehr viele Informationen verarbeitet werden, machen sich innerhalb kurzer Zeit Ermüdungserscheinungen bemerkbar, und die verfügbaren Informationen werden nach dem Prinzip: ?I take what I know? selektioniert. Dies bedeutet konkret, daß nur noch bereits Bekanntes aufgenommen wird. Neue Denkmuster können nicht mehr in den kognitiven Verarbeitungsprozeß integriert werden (2). Ein weiterer wichtiger Punkt im Zusammenhang mit Simulations- und Entscheidungshilfemodellen ist dieVisualisierung, die mittels verschiedener graphischer Tools und eines Geographischen Informationssystems umgesetzt werden kann. Die Visualisierung einer bestimmten Lage und deren ständige Aktualisierung ist eine unabdingbare Voraussetzung, Maßnahmen und Entscheide der verantwortlichen Behörden, einer von einem Ereignis betroffenen Bevölkerung zu kommunizieren und plausibel zu machen. Während bei der Entwicklung von Simulations- und Entscheidungshilfesystemen in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt wurden, sind in den Bereichen ?Interface Fachleute-Maschine? und ?Interface Bevölkerung-Maschine? zusätzliche Forschungsarbeiten notwendig. Es ist eine Illusion zu glauben, daß diejenigen Darstellungen, die den Fachleuten in den Einsatzorganisationen von Nutzen sind, auch gleichzeitig für die Kommunikation an breite Kreise der Bevölkerung verwendet werden könnten.

Die Natur der im DSS behandelten Entscheiungsproblematik erfordert, daß die Probleme strukturiert und sequentiell gelöst werden müssen. Dies bedeutet, daß sich Phasen der Entscheidungsvorbereitung und der Entscheidungsfindung, sowie Kontrollphasen abwechseln. Das in der Schweiz entwickelte und von Angehörigen des Armeestabsteils der Nationalen Alarmzentrale eingesetzte Decision Support Sytem entspricht diesen theoretischen Anforderungen und wird regelmäßig zu Übungs- und Ausbildungszwecken im Armeestabsteil eingesetzt.

Die Vorgehensweise des Systems gliedert sich in

   Lagebeurteilung,
   Alternativensuche,
   Simulation der Wirkung der Alternativen,
   Alternativenbewertung und
   Kontrolle des Zielerreichungsgrades.
 
 

2. Die Hauptkomponenten des DSS im Überblick (3)

Die Entwicklung des Decision Support Systems für verstrahlte Nahrungsmittel hat nach dem Unfall von Tschernobyl an der Universität Fribourg ihren Anfang genommen. Die an der Universität erarbeiteten konzeptionellen Grundlagen wurden 1990 von der NAZ in Zürich übernommen, in ein modernes EDV-System umgesetzt, sowie in enger Zusammenarbeit mit den Benutzern verbessert und ergänzt. Aufgrund der intensiven Kontakte mit den Anwendern konnten bereits während des Programmdesigns Wünsche und Anregungen entgegengenommen werden, was zu einer deutlich besseren Akzeptanz des Systems führte. Die praktischen Erfahrungen, die beim Einsatz des DSS bis heute gemacht wurden, waren insgesamt sehr positiv. Trotz gewisser Unzulänglichkeiten, die jedem komplexen System anhaften, möchte keiner der Verantwortlichen auf die durch das DSS gewährte Unterstützung verzichten.

Das Decision Support System DSS-VNK ist als zweistufiges Enscheidungssystem konzipiert: Es unterstützt sowohl die technischen als auch die politischen Experten während der verschiedenen Phasen der Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung. Das DSS enthält im wesentlichen vier Module und ist so flexibel programmiert, daß jederzeit Ergänzungen angebracht werden können. In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Module kurz beschrieben.

In einer Krise muß als erstes die Lage beurteilt und die Gefährdung der Bevölkerung abgeschätzt werden. Aus diesem Grund wird das erste Modul im DSS als Modul der Lagebeurteilung bezeichnet. Nach der Bestimmung der an den verschiedenen Meßstellen festgestellten radioaktiven Deposition und Identifikation der beteiligten Nuklide werden die resultierenden Dosen mittels des von der GSF in München entwickelten Computerprogramms ECOSYS (4), das an schweizerische Verhältnisse angepaßt wurde, prognostiziert. Anschließend werden die Bevölkerungsgruppen, welche als kritisch angesehen werden (Überschreiten der erlaubten Dosis), evaluiert und entsprechend ihrer Gefährdung gangiert. Basierend auf dem Dosis-Maßnahmen-Konzept werden diejenigen Nahrungsmittel bestimmt, die für die evaluierten Bevölkerungsgruppen die größte Gefährdung darstellen.

In einem zweiten Modul werden die für ein ausgesuchtes Nahrungsmittel möglichen Maßnahmen generiert. Die Experten können sich jeweils für ein spezifisches Nahrungsmittel in einer bestimmten Region die entsprechenden Maßnahmen generieren lassen. Um dem Benutzer den Entscheid zu erleichtern, welches Nahrungsmittel prioritär zu behandeln sei, werden diejenigen Nahrungsmittel angegeben, welche für die höchste Aktivitätszufuhr verantwortlich sind. Der Output dieses Moduls ist eine vollständige Liste von Maßnahmen für ein entsprechendes Nahrungsmittel, welche die maximal mögliche Dosisreduktion anzeigt. Um eine gute Entscheidung zu treffen, sollten möglichst viele Handlungsalternativen oder Maßnahmen den Entscheidungsträgern vorgeschlagen werden. Aus diesem Grund enthält das DSS für die zehn wichtigsten Nahrungsmittel (Milch, verschiedene Gemüse, Obst, Kartoffeln, Weizen, verschiedenes Fleisch) eine umfangreiche Liste von Maßnahmen zur Reduktion des Nuklidgehaltes aus dem Bereich der landwirtschaftlichen Produktion, sowie der lebensmitteltechnologischen Verarbeitung (5). Da nicht alle theoretisch möglichen Maßnahmen auch praktisch durchführbar sind, müssen die aufgelisteten Maßnahmen auf ihre Plausibilität hin getestet werden. Dazu bedient sich das System logischer Restriktionen (biologische, chemische und physikalische Restriktionen),sowie verschiedener Expertenregeln. Dieses Vorgehen verhindert, daß im Winter eine Maßnahme ?frühzeitiges Ernten? auf dem Bildschirm erscheint. Die zu diesem Zeitpunkt machbaren Maßnahmen werden anschließend logisch miteinander verknüpft und spezifiziert. Die Spezifikation beinhaltet im wesentlichen die Definition unterschiedlicher Zeitintervalle, innerhalb welcher eine Maßnahme ausgeführt werden muß. Dazu lassen sich vom System sogenannte ?Interventionswerte? berechnen, die denjenigen Aktivitätswert für ein Nahrungsmittel und Nuklid angeben, bei dem eine bestimmte Gesamtkörperdosis überschritten wird. Zusätzlich ist auch die interaktive Einführung eines bestimmten Toleranz- oder Grenzwertes für die einzelnen Nahrungsmittel und Nuklide möglich. Existiert ein verbindlicher Grenzwert, wird die Grenzwerthorizontale mit der Kurve der Aktivitätskonzentration geschnitten. Dadurch erhält man dasjenige Zeitintervall, innerhalb welchem eine Maßnahme zwingend durchgeführt werden muß. Die Spezifikation wird für jedes Nuklid und Lebensmittel separat durchgeführt werden. Als das, für eine geplante Maßnahme, verbindliche Zeitintervall wird jedoch aus strahlenschutztechnischen Gründen das größte Zeitintervall gewählt (konservative Rechnung).

Der Input für das vierte Modul ist ein Evaluationstableau, für welches teilweise die notwendigen Daten automatisch generiert werden. Die automatisch generierten Daten müssen von den Experten interaktiv eingegeben werden. Der Output dieses Moduls ist eine vollständig geordnete Reihe von spezifizierten Maßnahmen für ein Nahrungsmittel in einer bestimmten Region und für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe. Bei der eigentlichen Entscheidungsfindung werden in einem ersten Schritt die technisch vernünftigen Maßnahmen evaluiert. Die Experten beurteilen die Maßnahmen nach strahlenschützerischen und technischen Entscheidungskriterien wie Dosisreduktion, Durchführbarkeit, Versorgungssicherheit sowie radioaktiver Abfall, und gewichten die einzelnen Kriterien. Im bereits erwähnten Evaluationstableau werden alle möglichen Maßnahmen und die entsprechenden Konsequenzen bezüglich der einzelnen Kriterien aufgezeigt. Die anschließende Rangierung der Maßnahmen erfolgt wahlweise über ein Outranking oder ein ordinales Ranking-Verfahren.

Die Entscheidungsfindung ist als zweistufiger Prozeß konzipiert. Ein Vorentscheid erfolgt auf technischer Ebene, während der definitive Entscheid auf der politischen Ebene gefällt wird. Im Gegensatz zu den technischen Experten sind für die politischen Entscheidungsträger nicht die technischen, sondern die sogenannten politischen Entscheidungkriterien wie Akzeptanz, Versorgungssicherheit und Konsistenz inländischer und ausländischer Maßnahmen relevant.

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